Als ich eines Morgens erwachte, lebte ich in Frankreich.
So etwa fühlt es sich an.
In den letzten Jahren hatte ich den Wohnort zunehmend flexibel aufgefasst. Meine Arbeit fand seit etwa 2015 fast nur noch online statt und ich war somit frei genug, um hin und wieder ein paar Tage in Dresden oder ein paar Wochen in Hiroshima zu verbringen. Sprachlich kam ich überall zurecht, man muss schließlich nicht alles verstehen, was die Einheimischen sagen. Ich lebte eine Zeitlang mit dem Traum, einmal in Japan Fuß fassen zu können, aber das entpuppte sich bald als sehr schwierig, vor allem was die administrativen Aspekte anbelangte: Wenn man nicht Angestellter einer großen japanischen Firma oder Austauschstudent ist, oder sich in eine japanische Familie einheiratet, dann bleiben einem die Türen zu diesen schönen Inseln verschlossen. Da hilft es auch nichts, seine langjährige Beschäftigung mit der dortigen Kultur als Argument anzubringen – hier zählt nur Business.
Ein weiterer geographischer Schwerpunkt lag im Bereich Birma/Myanmar. So bezaubernd dieses Land jedoch auch sein mag, ich hatte es auf Dauer immer als anstrengend empfunden, zu schwierig für ein Leben, das nicht in einer “künstlichen Wirklichkeit” stattfinden sollte. Das betraf nicht nur die politische Situation, sondern auch Aspekte wie die medizinische Versorgung. Unfallopfer etwa werden stundenlang in Taxis über schlaglochübersäte Straßen gefahren, bis sie zumindest in einer Art Arztpraxis ankommen, wo jedoch kaum die nötige Ausstattung zu finden ist, um komplizierte Operationen durchzuführen.
Unter den vielen Fußnoten meines Lebens befindet sich auch eine, die “Französisch” heißt. In der Schule hatte ich nie Französisch gehabt, obwohl es mich immer gereizt hatte. Mit Englisch und mit Latein, das eine solide Grundlage für klassische Bildung bieten sollte, dessen Nutzen aber schon nach wenigen Jahren längst nicht mehr den zeitlichen und nervlichen Aufwand rechtfertigte, und ein paar naturwissenschaftlichen Fächern hatte ich mir den späten Beginn mit Französisch verbaut gehabt. Ich versuchte Jahre später an der Uni, nach einer massiven Ladung an Physik und Mathematik, abends noch Französisch und Russisch zu lernen. Immerhin brachte ich es zu einem Wortschatz, der mir fortan als Beleg diente, mich zumindest redlich bemüht zu haben.
Später dann, in München, nahm ich Stunden am Institut Français. Insgesamt mochte ich etwa ein halbes Jahr lang Französisch gelernt haben, und das auf sehr niedrigem Niveau, mit wenig Aufwand und geringen Resultaten. Dessen ungeachtet blieb jedoch immer ein Interesse bestehen. Ich hörte französische Musik, sah französische Filme, wenn auch nur in Übersetzung, an der Uni (mittlerweile in den Geisteswissenschaften) las ich französische Autoren, und auch sie nur in der Übersetzung. Schließlich gab mir ein Freund, der zum Studieren nach Frankreich ging und dann dort blieb, eine gute Gelegenheit, mehrmals dorthin zu fahren – zusammen im Auto und auch alleine mit Motorrad und Zelt. Die Strecke nach Bordeaux und Toulouse führten mich vor allem durch südliche Regionen, so dass ich kurioserweise Paris erst sehr spät kennenlernte, obwohl für viele Menschen Frankreich synonym mit Paris zu sein scheint.(1)
Es begann online
Man könnte sagen, dass mich die Pandemie in eine Form der inneren Emigration gezwungen hatte. Als glücklicher Bewohner einer geräumigen Wohnung mit zwei Balkonen konnte ich meinen ungedeckten Bedarf an Reisen und sozialen Kontakten durch einen hohen Konsum an YouTube-Videos und einer strafferen Organisation meines Alltags entschärfen. Eine Bäckerei und der Straßenverkauf eines Restaurants und zweier Brauereien wurden zu wichtigen Fixpunkten in jenen Tagen, ich las viel und machte Fortbildungen, und ich hätte die Tage gezählt, bis ich wieder reisen dürfte, wenn ich das Ende der Beschränkungen nur gekannt hätte.
Auf einer Online-Plattform suchte ich auch weiterhin nach Konversationspartnern, um meine Japanisch-Kenntnisse am Leben zu erhalten. Ich traf mich einmal pro Woche für zwei Stunden Konversation mit einer Japanerin im Büro, was deshalb möglich war, weil berufliche Aktivitäten erlaubt waren. Diese Plauderstunden waren vielleicht ineffizient, aber nett und wie ein Gruß aus der Ferne und von vergangenen Träumen.
Und dann erreichte mich eines Tages eine Anfrage, die allerdings nicht das Japanische betraf, sondern – völlig überraschend – das Französische. Ich hatte diese Sprache nämlich aus einer Laune heraus in meinem Profil erwähnt, unter meinen Fremdsprachen. Gut, ich war ein wenig überrumpelt, und nach ein paar Versuchen musste ich feststellen, dass ich weder über die Vergangenheit noch die Zukunft zu reden vermochte, dass ich von Konjugationen und Deklinationen keine blasse Ahnung hatte und dass mir die einfachsten Konjunktionen fehlten, um irgendetwas sagen zu können, was über die Thematik von Sprachkursen, Lektion eins bis fünf, hinaus ging.
Aus gelegentlichen Video-Treffen wurden fast tägliche, oft mehrstündige Gespräche, wurden reelle Treffen, und mit Web-Seiten, Apps und Audiokursen wagte ich mich mutig in die Tiefen der französischen Sprache vor.
Irgendwann schließlich kam es dazu, dass ich meiner Konversationspartnerin, von der wir längst den Vorwand der “Konversation” gestrichen hatten, bei einem Umzug in ein Dorf im sogenannten “Großen Osten” Frankreichs half. Ich hatte meinen Laptop dabei und setzte gewohnheitsgemäß meine Arbeit dort fort, wo ich Internet hatte. Ich konnte mir erlauben, einige Zeit aus Prag abwesend zu sein. Freunde leerten meinen Briefkasten, es war die Zeit der Schulferien. Und da ging mir auf, dass ich eigentlich auch jetzt hier bleiben könnte. Was spräche denn dagegen? Nun, dagegen sprach die Stimme in mir, die alles im voraus planen will, die Sicherheit und Kontrolle braucht. Aber dann war da auch diese andere Stimme, die selbe Stimme, die mich damals völlig überstürzt nach Prag hatte gehen lassen, die mich für einen Monat zum Sprachkurs nach Odessa geschickt oder völlig unvorbereitet mit dem Motorrad nach Frankreich auf den Weg gebracht hatte, mit einer Maschine, deren Motor zuweilen mitten in der Fahrt auszugehen pflegte.
Ich besaß bald eine französische Handynummer und mein Name klebte auf dem gemeinsamen Briefkasten. Die behördliche Anmeldung war verwirrend einfach, um nicht zu sagen: inexistent: In Frankreich nämlich meldet man sich nicht an und belegt seinen Wohnsitz einfach mit einer Elektrizitäts- oder Gasrechnung, auf der sich der Name befindet, und für viele Zwecke reicht eine Erklärung des Vermieters oder des Mieters, bei dem man wohnt. Der Anfang war verdächtig einfach, und in der Tag stellte es sich dann als sehr viel schwieriger heraus, ein Bankkonto zu eröffnen, eine Krankenversicherung mit einer gültigen (!) Nummer zu bekommen, ein selbstständiges Gewerbe anzumelden und daneben auch noch alle möglichen Ab- und Ummeldungen in Tschechien vorzunehmen. Allein schon die amtlich beglaubigten Unterschriften für meine tschechische Bank (die Registrierung der neuen Rufnummer für das Online-Banking, nachdem die tschechische Nummer plötzlich aufgehört hatte zu funktionieren) und eine Vollmacht führten dazu, dass mich die Angestellte beim tschechischen Konsulat in Straßburg schließlich als Bekannten begrüßte und mich fragte, ob der Pass vom letzten Mal noch gültig sei. Für den bloß zehnminütigen Vorgang des Unterschreibens und Stempelns war ich einen ganzen Tag lang unterwegs, da keine günstigeren Züge fuhren.
Die Abmeldung des tschechischen Hauptwohnsitzes ging nur persönlich oder per Einschreiben, was teuer war und langwierig. Man bedenke nur den einwöchigen Postweg nach Prag und sodann den mehrtägigen Weg der Behördenvertreter zum Postamt, um die eingetroffenen Sendungen abzuholen. Nachdem das zuständige Ministerium die Bestätigung an die falsche Adresse abgeschickt hatte, konnte ich nicht einfach anrufen oder eine E-Mail schicken, sondern musste erneut einen eingeschriebenen Brief schicken, in dem ich um eine erneute, und diesmal korrekte Zustellung bat.
Auf diese Weise vergingen die Monate, und man glaubt gar nicht, wie schnell ein Vormittag dahin ist, den man mit Formularen, Briefen und Gängen zum Postamt verbringt, wo ich mich längst schon nicht mehr ausweisen muss, da ich dort Stammkunde bin.
Sprachlosigkeit und viel Geduld
Sprachlich fühle ich mich wie jemand, der im Pazifik das Schwimmen lernt. Gelesenes Französisch kann ich mir oft mit englischen Vokabeln zurechtinterpretieren, ansonsten hilft mir DeepL, die bessere Google-Translate-Variante aus Köln. Ich hatte erste sprachliche Erfolge in unserer Dorf-Épicerie und lernte in einem Schwimmkurs (für Fortgeschrittene und als Antidot zu meinen tief sitzenden Erfahrungen aus der Schule), die sprachbegleitende Pantomime der stämmigen Schwimmlehrerin zu deuten. Neue Vokabeln erwarb ich somit an der Käsetheke und beim Luftholen, während ich immer noch keinen Smalltalk verstand. Ich absolvierte eine Online-Fortbildung per Videos auf Französisch und machte dort die Bekanntschaft mit der ganz eigenen französischen Aussprache englischer Wörter, relativiert nur durch die vorangegangene Erfahrung eines englischsprachigen Kurses mit schmerzlich deutschem Idiom, zu dem ich hier aus Rücksicht nicht verlinken werde.
Eines Tages wurde ich von einer Agentur angerufen, und während die Fragen über meinen beruflichen Werdegang und meine Gehaltsvorstellungen durch die Gehirnwindungen rasselten wie ein Eimer französischer Legosteine, die man in ein deutsches Orchestrion geschüttet hatte, begriff ich mit einem Mal, dass es sich hierbei um ein Bewerbungsgespräch handelte. Es folgte später ein weiteres Gespräch mit einer Agentur, diesmal per Video, was den Vorteil hat, dass nun Mimik und Gestik viele Verständnislücken auffüllen, oder zumindest kaschieren können.
In dem hiesigen Naturschutzverein, in dem ich Mitglied bin, gibt es Leute, die stundenlang sprechen, während mein Gehirn wie ein Sieb versucht, zumindest die größeren Partikel und die Strukturen aufzufangen und diese Teile wie in einem unendlichen Puzzle zu sinnvollen Einheiten zu kombinieren. Nach rund einer Stunde der Konzentration fühlt sich mein Denken an wie ein schwerer Koffer, der mir immer wieder aus den kraftlosen Fingern rutscht. Nach zwei Stunden erwische ich mich fast nur noch dabei, wie meine Gedanken längst abgeschweift sind, und jeder nichtige Anlass in meiner Umgebung ist nun dazu geeignet, mir wohltuende Ausflüchte zu bieten, und nach geschlagenen drei Stunden bin ich schließlich so betäubt, dass ich es nicht einmal merke, wenn mich jemand anspricht, und jeder kleinste Denkaufwand führt zu einem zähen Prozess in meinem sprachverschlammten Gehirn, ähnlich wie man nach einer ewigen Serie von Liegestützen nun ein Glas Wasser zum Mund führen will, und man bekommt es einfach nicht vom Tisch hoch.
Treffen mit Freunden von Freunden verliefen oft beschämend frustrierend. Vielleicht vermochte ich aus den fünfzig Prozent, die ich mittlerweile schon verstand, das Thema zu erschließen, vielleicht sogar begriff ich ganz konkret und mit nur fünf Sekunden Verzögerung, worüber vorhin alle außer mir gelacht hatten. Aber ich erfuhr auch während vieler Monate, wie unglaublich wichtig es mir ist, mich selbst aktiv in Gespräche einbringen zu können, sei es mit einer Zwischenfrage, mit einem Laut des Erstaunens, oder sogar mit einer eigenen Erfahrung, mit meiner Meinung, die mich vor den Anderen ein bisschen sichtbarer werden lassen, die mir ein paar Facetten und Details beifügen, etwas Tiefe verleihen, die mich vom “deutschen Freund der Freundin, der immer stumm dabei sitzt, zunächst lächelnd, aber zunehmend geistesabwesend auf die Tischplatte stierend,” zu einem Menschen werden lassen, der eine bestimmte Art des Humors hat, der bestimmte Länder bereist und Dinge gesehen und gemacht hat, der tatsächlich zuhören und auch etwas beitragen und das Gespräch in eine interessante Richtung lenken kann, wenn er nur kann.
Soweit zu meiner anhaltenden Begegnung mit dem Französischen. Die Erfahrung, und so auch die meinige, lehrt einen, dass die beständige Beschäftigung mit einer Sprache zwingend dazu führen wird, sie immer besser zu beherrschen. Der Genuss, eine Sprache zu verstehen, bringt hohe Investitionskosten mit sich. Das ist einfach nicht kostenlos zu haben.
Dann gibt es noch das Frankreich anderer neuer Erfahrungen, der unzähligen Bezeichnungen für Speisen, dass man Soßen selbst zusammenrührt und Fertiggerichte meidet, dass man wenig zum Frühstück und spät zu Abend isst und dass man sehr viel mehr gemeinsam macht, als es in Deutschland normal war, eines Landes einer etwas altmodischen Höflichkeit, wo man sich noch mit “mein Herr” und “meine Dame” anspricht, wo Kultur und Humor ein völlig anderes Niveau haben, einfach weil sie geschätzt und gepflegt werden, in der Familie und im Kleinen, wo Kultur nicht Goethe und Oper heißen muss, sondern auch Satire und raffinierte Comics, spannende (und nicht moralisierende) Fernsehserien und Wortneuschöpfungen, und überhaupt viele Produkte, die nicht erst noch institutionell gefiltert und begradigt werden müssen, bevor sie einer passiv konsumierenden Masse zugeleitet werden. Und nicht zuletzt ist es ein Land des Laizismus, zumindest offiziell.
Frankreich ist allerdings auch die Erfahrung verschwindend weniger Fahrradwege, und das trotz der Tour de France, man ist stolz auf seine technischen Errungenschaften, hier gab es Minitel und hier fährt einen der TGV in etwas mehr als einer Stunde nach Paris, während das deutsche Selbstbild vom größten Technolgiestandort aller Zeiten zu einem guten Teil davon zehrt, dass man den Blick auf andere Länder verweigert. Erneuerbare Energiequellen sind in Frankreich jedoch eher mäßig vertreten und die Atomkraft hat noch etwas von Religionsersatz, als Strahlenkranz des Präsidenten, denn alles andere wäre wohl inakzeptabel für diese “große Nation”. Viele Dörfer sind wie ausgestorben, man fährt lange im Auto zur Arbeit und einkaufen, und das Klischee vom malerischen Café unter Bäumen und dem kleinen persönlichen Laden entspricht zumindest hier in der Region nicht der modernen Wirklichkeit.
Paris ist faszinierend, vor allem seit ich dort unbeschadet Fahrrad gefahren bin, aber ich bin trotzdem froh, in der von Parisern oft belächelten, ignorierten oder völlig unterschätzten Provinz zu leben. Hier ist noch nie jemand ungeduldig geworden, weil ich sprachlich auf Unter-Vorschulniveau einen Einkauf oder Behördengang erledigen musste.
Jetzt müsste ich noch viel über die mehr persönlichen Aspekte meines Lebens schreiben, aber dafür ist dies nicht der rechte Platz. Ich habe generell viel neu begonnen. Ich habe seit Jahren wieder einmal gezeltet, ich habe wieder gezeichnet, habe mir ein hochwertiges Tourenrad mit Satteltaschen gekauft, nach all den Jahren von City-Bike-Sharing, wo man sich mit gekrümmtem Rücken auf lückenhaften Fahrradspuren und im ersten bis dritten Gang durch den Verkehr strampelt (abgesehen von ein paar schönen Touren auf guten Mieträdern), ich habe mich beruflich in eine neue, oder eigentlich alte Richtung orientiert, habe also alte Erfahrungen durch einen Ausbildungs-Marathon auf den aktuellen Stand der Zeit gebracht, ich habe nach Jahrzehnten wieder mit Elektronik gebastelt, führe in meinem Lebenslauf neuerdings ein Praktikum auf, das ich anno 1992 absolviert habe, und ich habe eine Programmiersprache(2) weiter gelernt, die ich zuletzt 1994 in England benutzt hatte.
Über meine Beziehung werde ich hier ebenso wenig schreiben. Ich bin nicht der Mensch, der das Private gerne öffentlich ausbreitet, aber das mag vielleicht darüber hinweg täuschen, wie viel Platz dies Ungesagte in meinem Leben einnimmt, wie grundlegend es mich verändert und meine Wege gelenkt hat und wie sehr es mich jeden Tag aufs Neue beschenkt und bereichert.
Ich sollte wohl auch ein paar Fotos einfügen. Eigentlich bin ich jetzt zu träge, um die Monate von Bildern zu durchsuchen. Ein paar Fotos habe ich aber nun doch gefunden.
Jetzt endlich hat auch Frankreich den verdienten Platz unter meinen Schilderungen und Reflexionen gefunden. Zumindest ist ein Anfang gemacht.