In Budo ist es nicht ungewöhnlich, dass andere Disziplinen eine – zuweilen unerlässliche – Nebenrolle spielen. Oft sind sie für die Rolle des Angreifers zuständig. So etwa wird der Stock in Jodo traditionell gegen Angriffe mit Katana eingesetzt, weshalb hier grundlegende Kenntnisse in Kenjiutsu wichtig sind. Ganz extrem ist es bei Aikido, das sich ausdrücklich als defensiv definiert und wo der Angriff somit nicht per Aikido-Technik geschehen kann. Der Angreifer benutzt daher Techniken oder Waffen, deren Verwendung zumeist nur am Rande gelehrt wird. Zudem werden in Aikido – je nach Stil und Schule – Jo und Bokken mehr oder wenig dazu verwendet, um die eigenen Techniken, Körperhaltung, Abstände und Bewegungsabläufe zu verstehen und zu verbessern.
Gerade in Aikido habe ich da zuweilen einen gewissen Dilettantismus erfahren müssen – bei manchen Lehrern und in Folge dessen auch bei mir selbst. So etwa ging es häufig darum, wie unglaublich scharf japanische Klingen seien und dass bereits eine leichte Berührung mit dem Finger dazu führen muss, ihn von der Hand zu trennen.
Ich empfand dies nicht nur für eine Form der Großtuerei, die unpassend für Aikido war, sondern auch für völlig irreführend. Wer Anatomie studiert (oder wie ich zuweilen in der Pathologie gejobbt) hat, weiß aus Erfahrung, dass die Messer dort zu den schärfsten gehören, die sich technisch überhaupt herstellen lassen, dass sie aber dennoch nicht bloß per Berührung durch einen Knochen hindurchgleiten wie durch weiche Butter. Gerade deshalb wird auch in Iaido/Battojiutsu so viel Zeit darauf verwendet, richtige Schnitte zu erlernen, deren Kraft aus der Hüfte kommt.
Oft scheint jeder Trainer oder Dojo sein eigenes System zu haben, in dem völlig zufällige Dinge als wichtig gelten und andere dagegen vernachlässigt werden. Ich denke hier an eine Kata aus Aikitoho, wo das Anliegen der Tsuka am Handgelenk für Chudan Tsuki von vielen Lehrern als einziges Detail hervorgehoben und seine Einhaltung streng überwacht wird, während solche grundlegenden Dinge wie korrektes Sayabiki dabei völlig vernachlässigt werden. Dabe wird oft ein hörbares Zischen beim Schnitt erwartet, während das laute Kratzen beim Ziehen niemanden zu stören scheint.
Auf der anderen Seite gilt natürlich die Regel, dass ein Lehrer (insofern er diesen Titel verdient, und über akzeptable Kriterien ließe sich lange diskutieren) zu einem gewissen Grad die Freiheit genießt, die Hilfsdisziplinen nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen. Das betrifft dann etwa die Frage, wie in Aikido oder Jodo das Schwert in Hasso no Kamae gehalten wird. Allerdings sollte er dann aber klar machen, dass es sich um seine persönliche Präferenzen handelt, und nicht um eine gottgegebene und unanfechtbare Wahrheit.
In Aikitoho bedient man sich dort, wo ich trainiere, zumeist aus Seitei-Iaido. Das ist sinnvoll, weil es sehr verbreitet ist und es einem ein bewährtes und in sich konsistentes System zur Hand gibt, das einem gut als Leitbild dienen kann. Nachdem jedoch in Aikitoho (den Chiburi- und Noto-Formen nach zu urteilen) auch andere Schulen mit eingeflossen sind, erscheint es mir seltsam, wenn Seitei nun als einzig richtige Methode für alles das Schwert Betreffende angeführt wird.
Für den größten Fachmann hält sich immer derjenige, der den engsten Horizont hat. Mir fällt hier der Spruch ein, dass Reisen bildet. Sicher ist zwar bei Budo eine gewisse Beständigkeit notwendig 1, aber zumindest sollte man sich dessen bewusst sein, dass es mehr gibt als nur das, was man selbst kennt und verwendet. Insbesondere gibt es kein absolutes “Richtig” und “Falsch”, und das gilt vor allem für besagte Hilfsdisziplinen, die man sich nur “geborgt” hat. In Aikido etwa ist es völlig unsinnig, für einen Angriff mit dem Schwert eine bestimmte Schwert-Schule als die einzig richtige zu bestimmen.
Worauf es mir bei der Wahl der Stilrichtung oder Schule für Hilfsdisziplinen ankommt, lässt sich vielleicht wie folgt zusammenfassen:
- Sinn: Irgendwo muss es eine gute Begründung geben, warum etwas so gemacht wird, wie es gemacht wird. Bei Ukenagashi kann ein Schnitt mit der Seite der Klinge aufgenommen werden, weil Scharten vermieden werden sollen, oder auch mit der Schneide (Ha), mit der Begründung dass dies der härteste Teil der Klinge ist und in dem Moment Scharten nur eine untergeordnete Rolle spielen. Beides kann als Begründungen akzeptiert werden. Wenn aber zum Beispiel das Schwert in Hasso no Kamae senkrecht wie eine Kerze gehalten werden soll, dann will ich wissen, warum gerade so.
In einer bestimmten Schwertschule mag als voll gültige Begründung gelten, dass dies einfach die Tradition sei, die man mit der Schule zu akzeptieren habe. Wenn aber aus der großen Zahl von externen Optionen eine bestimmte herausgepickt und übernommen wird, dann bleibt die Notwendigkeit einer Begründung bestehen: Warum gerade diese Schule und deren Eigenheiten?
Zum Sinn gehört für mich dabei auch ein Mindestmaß an richtiger Ausführung, so etwa dass ein Schwertschnitt – auch mit dem Bokken – im richtigen Winkel verläuft (Hasuji) oder dass ein Jo nicht wie ein Baseballschläger verwendet wird. - Konsistenz: Zumindest ein gewisses Maß an Konsistenz sollte gewahrt werden. Das betrifft nicht nur die Logik oder Herkunft, sondern auch, ob mehr Wert auf Details gelegt wird oder umgekehrt auf den Bewegungsfluss oder das Bewusstsein. Ebenso ist es völlig inkonsequent, an bestimmten Punkten extremen Realismus zu fordern, während man woanders durch enge Regeln an bestimmte, ungünstige Aktionen gebunden ist.
- Aufrichtigkeit: Der Lehrer sollte keinen Hehl daraus machen, dass er sich für eine bestimmte Form der Ausführung entschieden hat, dass es aber noch andere gibt. Das heißt, er kann verlangen, dass es in seinem Dojo “so und so” gemacht wird, er kann aber nicht behaupten, dass andere Weisen “grundsätzlich falsch” seien. Insbesondere sollte er die Stärke besitzen zuzugeben, dass seine Präferenzen auf seinem persönlichen Erfahrungshorizont beruhen, der nie allumfassend sein kann.
Ich habe bewusst den Begriff “Budo” gewählt, weil darin der Aspekt der persönlichen Entwicklung mit enthalten ist, die nie abgeschlossen ist. Kaum etwas wirkt in Budo peinlicher als ein Lehrer2, der den Eindruck zu erwecken versucht, er sei irgendwo “angekommen” und die Zeit des Lernens, der Selbstkorrektur und neuer Einsichten sei nun vorüber.
Ich habe nicht selten in Aikido erlebt, dass ein Schüler in einer verwendeten Hilfsdisziplin genauso fortgeschritten oder sogar noch weiter war als der Lehrer, da er sie neben Aikido längere Zeit und mit viel Hingabe betrieb.3 Das führte dann etwa dazu, dass im Training zwei verschiedene Ausführungen aufeinander prallten – etwa zwei verschiedene Formen von Nuki Tsuke bei der Verwendung eines Schwertes. Hier ist es unerlässlich, dass beide aufeinander zugehen: Während der Schüler die Präferenz des Lehrers für dieses Training akzeptieren muss, muss der Lehrer anerkennen, dass seine Präferenz eben nicht mehr ist als genau das: seine Präferenz.
Manche Dojos ermutigen ihre Schüler dazu, viele andere Disziplinen zu besuchen. Ich halte das für eine gute Sache. Das Resultat sollte aber mit dem Erlernen auch eine Erweiterung des Horizontes sein, und der Horizont sollte sich dabei schneller erweitern als der selbst zurückgelegte Weg.
Das eine Extrem sind Lehrer, die sich nicht aus ihrem engen Bereich wagen und die das, was sie dort erlernt haben, als die einzige Wahrheit verkaufen. Das andere sind dann aber solche, die in einer Vielzahl von Dojos zu Gast waren und etliche Seminare besucht haben und die sich nun daheim (als der sprichwörtliche Einäugige, der unter den Blinden als König herrscht) als Experten gebärden, obwohl sie überall nur oberflächliche Kenntnisse in oft völlig zufälligen Bereichen haben.
Das Ergebnis ist in beiden Fällen identisch: Wissen mit wenig Tiefgang in oft willkürlich ausgewählten Bereichen, die nur dank der privilegierten Position als Lehrender im eigenen Dojo als Dogma verkauft werden können. Darunter leidet dann nicht nur die Qualität der Techniken, sondern nicht zuletzt auch das Vertrauen in den Lehrer.
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