Ich schreibe ein paar Beobachtungen und Gedanken nieder, die eigentlich nichts mit dem Inhalt von Budo zu tun haben, sondern mit dem Aspekt des Lernens.
1. Lernen als Bedingung und Folge des Könnens
Ich habe in Jodo und Aikido zwei völlig verschiedene Formen des Lernens erfahren, und beide eher ungewöhnlich für die westliche Kultur. Gelehrt wird nicht durch das Vermitteln abstrakter Regeln. Das Beherrschen einer Technik folgt nicht ihrem Verstehen, sondern umgekehrt. Gerade in Shinto Muso Ryo werden bis ins kleinste Detail festgelegte, stark formalisierte und eigentlich unrealistische Bewegungsabläufe wiederholt und perfektioniert. Der Lernvorgang besteht dabei aus einem Hintereinander von vielen Stufen, von denen der Schüler immer eine hinreichend gut abgeschlossen haben muss, bevor er die nächste beginnen kann. Zunächst wirkt es wie ein stumpfsinniges Auswendiglernen, aber gerade im Nachvollziehen dieser Bewegungen und im Erleben ihrer zunehmenden Vervollkommung entwickelt sich ein Begreifen und Aneignen des Erstrebten.
Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler ist hier extrem wichtig und nicht so austauschbar wie in anderen Wissensfeldern. Der Lehrer begibt sich zum Lehren auf die Ebene des Schülers und wird dort immer wieder selbst zum Lernenden. Einige Bewegungsabläufe offenbaren ihre tiefere Dimension erst “im wiederholten Durchlauf”. Denn wer begreifen will, was es zu verstehen gibt, muss schon einen wesentlichen Teil verstanden haben. Eine hohe Stufe des Könnens vermag somit nur zu beurteilen, wer es selbst weit gebracht hat. Das ist wohl so eine Art Hermeneutischer Zirkel in der Bewertung von Meisterschaft. Viele Techniken im Shinto Muso Ryu wurden auch ganz bewusst so gelehrt, dass nur jemand, der lange genug dabei ist, mehr und mehr die entscheidenden Details sehen kann.
Etwas anders ist es bei Aikido, wo Anfänger und Fortgeschrittene nahezu das selbe Repertoir an Techniken ausführen, aber auf verschiedenen Stufen. Es wird gelernt, indem man den Stoff immer wieder ausführt. Erst lernt man die Schritte und Bewegungen auswendig, man fühlt sich ungelenk. Dann werden sie geläufiger, flüssiger, und man erkennt die Macht in seinen Händen und durchläuft oft eine Phase der Euphorie und Selbstüberschätzung. Dann schließlich erkennt man, dass man viel intuitiver und effizienter reagieren und man, eher als den anderen zu beherrschen, seinen eigenen Körper besser beherrschen müsste, und zugleich unabhängiger von Standardsituationen werden, und es beginnt eine lange, lange Zeit des Suchens, des Wiederholens und des Ausprobierens von Varianten, Ratschlägen und Lehrern. Letztendlich sagt einem nur das eigene Gefühl, ob man nun eine Stufe des Könnens erreicht hat, mit der man zufrieden sein kann. Und jede Stufe bringt mit dem Erreichten auch zugleich den Blick für das mit sich, was es von hier ausgehend noch zu verbessern gibt.
Unser westliches Verständnis von Lernen ist sehr viel induktiver ausgerichtet. Mit Hilfe einer Regel oder eines Klassifikationssystems wird der Schüler in die Lage versetzt, analoge Bereiche zu bearbeiten. Er wird dazu ermuntert, nach Parallelen zu suchen, Erlerntes auf Neues zu übertragen. Verstehen definiert sich demzufolge so, dass der Schüler in der Lage ist, neue Informationen anhand eines bekannten Musters bearbeiten zu können. Das Unbekannte wird ins Bekannte überführt, indem es sich abstrahiert auf Bekanntes zurückführen und dementsprechend verarbeiten lässt.
2. Ein extrem langsames Lernen
Im Budo ist man nie fertig. Deshalb auch das “-do” im Namen – man entwickelt sich auf ein sehr fernes Ziel zu, das nur sehr unscharf durch bestimmte Erfahrungen gegeben ist: Man sieht die Beispiele derjenigen, die einen durch ihr Können beeindrucken, und hin und wieder gelingt einem auch etwas besser als sonst üblich und man gewinnt so eine gewisse Ahnung davon, was einem selbst möglich sein müsste.
Für mich hat dieses Sich-Bescheiden-Müssen auch eine sehr positive Erfahrung mit sich gebracht: Ich bin erstaunt, wie viel ich nach Schule, Studium und einsetzender Abstumpfung im Berufsalltag noch zu lernen imstande bin, indem ich fähige und geduldige Lehrer habe und den Stoff in kleinen Portionen und häufigen Wiederholungen beigebracht bekomme. Dann muss ich nur noch dran bleiben. Was leichter gesagt ist als getan, vor allem da ich nicht immer in der richtigen Laune bin, sondern oft gestresst und übermüdet, oder ich möchte mir einen freien Abend gönnen, oder ein langer Urlaub bringt mich völlig aus dem Rhythmus.
3. Lernen mit Körper und Geist
In der Schule gab es immer diese empfundene Trennlinie zwischen Sport und den übrigen Fächern. Wenn ich mich recht erinnere, dann wurde Sport zudem als eine Art Ventil propagiert: Nach dem zwanghaften Ausharren im Klassenzimmer folgte das kontrollierte Austoben, nach der Konzentration die Zerstreuung. Man war verpflichtet zur Instandhaltung des vernachlässigten Körpers. Für viele Schüler war der Sportunterricht die Gelegenheit für ein willkommenes und woanders nur mit viel Aufwand erreichbares Erfolgserlebnis. Und natürlich wurde auch hier der Wettbewerbsgedanke gepflegt – man wurde verglichen und bewertet. Ich erinnere mich gut daran, dass sportlich oder unsportlich zu sein so eine Art Schicksal darstellte, das allenfalls von schulexternen Kriterien abhing.
Dieser Dualismus von Körper und Geist trägt sicherlich zu dem Verständnis mit bei, dass der Körper lediglich eine Art Versorgungsmaschinerie für das Gehirns darstelle, welches wiederum als bevorzugtes Organ den Geist erzeuge oder aus irgendeiner seltsamen Dimension auf eine bestimmte Weise einfange, die uns mit diesem – oft sehr physisch konnotierten – Ich-Gefühl versieht. Die Sinnesorgane sind so etwas wie eingestöpselte Peripheriegeräte, und beschrieb man vor nicht allzu langer Zeit noch den Computer in Analogie zum Gehirn (“Maschinengehirn”), so spricht man nun bevorzugt umgekehrt vom Gehirn als etwas Computerartigem (“auf etwas programmiert sein”).
Gewisse Dinge, wie etwa das Spielen von Musikinstrumenten oder Fahrradfahren, erlernt man jedoch zu einem großen Teil mit “dem Körper”, also unbewusst und zugleich nicht-bewusst-machbar. Oft hat es mit manuellen beruflichen Fertigkeiten zu tun: das Balancieren eines Tabletts voller Gläser und Flaschen auf einer Hand; das Herunterschütteln der Flüssigkeit im Thermometer; mit geeigneten Hammerschlägen einen Nagel versenken. Man erlernt es einfach durch wiederholtes Üben, bis man es automatisch kann und es dann so effizient läuft, dass es einem sogar Spaß macht. Man fühlt die Überlegenheit gegenüber dem Nichtkönnen.
Außer den Künsten (etwa Malerei, Tanz, Musik) kenne ich kaum einen Bereich, wo dieses “Erüben” zu solch ungeheure Komplexität und bis zur Perfektion getrieben und dabei in jedem Schritt mit einem theoretischen Hintergrund versehen wird, wie es im Budo anzutreffen ist.
Es liegt der Gedanke nahe, dass hier nicht bloß Körper und Geist eng zusammen arbeiten, sondern überhaupt als eine Einheit betrachtet werden können. Oder dass zumindest die Grenze woanders verortet wird, also jenseits des Unbewussten, der Reflexe und der eingeschliffenen Muster für Bewegungsabläufe, die sich nicht anders mitteilen lassen als durch Vorführen.